Helden aus der Heimat
Drei Tage nehmen wir uns für die Besichtigung der Tempelruinen von Angkor Zeit. Zwei Tage kurven wir mit dem Tandem im weitläufigen Gelände umher und mischen uns unter die Touristenscharen. Für mich ist es der zweite Besuch innerhalb von 10 Jahren. Damals hatte es zwar schon viele Besucher im Verhältnis zu anderen Orten im Land - doch nichts im Vergleich, was uns jetzt erwartet. Wir werden regelrecht erschlagen! Beim ersten Mal habe ich mit etwa dreissig anderen Nasen den Sonnenaufgang und die morgendliche Stille bei Angkor Wat genossen. Inzwischen verteidigen Hunderte von Touristen jeden Morgen mit Ellenbogen ihren Platz vor dem Seerosenteich, in dem sich die 5 Türme spiegeln. Ein Schauspiel, welches uns noch vielmehr fasziniert als die Silhouette des weltweit grössten Tempelkomplexes. Am dritten Tag besuchen wir mit einer Motorrad-Rischka den 40 Kilometer vom Zentrum entfernten Tempel Banteay Srei - damals wie heute mein absoluter Favorit. Die filigranen Ornamente im rosa Sandstein sind atemberaubend. Wir sind zutiefst fasziniert von den Kunstwerken, welche die Khmer im 9. - 15. Jahrhundert erschaffen haben. Nicht nur von der imposanten Grösse der mehr als Tausend Tempel auf einer Fläche von über 200 Quadratkilometern, sondern auch von den feinen Details, welche die Wände zieren und Geschichten von der damaligen Zeit erzählen.
Die Ruinen sind aber nicht das Einzige, was uns in Siem Reap beeindrucken. Es leben hier Menschen aus der Schweiz, welche die Heimat hinter sich gelassen haben, um in Kambodscha Grosses zu leisten.
Einer davon ist Dr. Beat Richner. Für sein aussergewöhnliches Engagement wurde er im Jahre 2002 zum Schweizer des Jahres gewählt. Auch wenn ich schon vor 10 Jahren sein Konzert hier vor Ort besucht habe, freute ich mich bereits vor der Abreise in der Schweiz auf den Moment, ihm in Siem Reap wieder zuhören zu dürfen. Als wir ihm in der ersten Reihe direkt gegenüber sitzen, wird mir bewusst, dass wir einen weiteren Meilenstein auf unserer Reise erreicht haben. Inzwischen tritt Beat Richner im Spital in Siem Reap zwei Mal die Woche als Beatocello auf. Er spielt Cello und erzählt, wie er während den letzten 21 Jahren die 6 Kinderspitäler Kantha Bopha in Kambodscha aufgebaut hat. Er berichtet über die vielen Hürden, über die prekäre Gesundheitssituation im Land und über die fehlende Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation WHO sowie der Pharmaindustrie. Laut WHO steht Erstklassenmedizin nur denjenigen Menschen zu, die selbst für die Behandlungskosten aufkommen können. In einem Land, in dem 80% der Bevölkerung auf dem Land lebt und der Grossteil davon mit weniger als 2 US Dollars pro Tag auskommen muss, ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Kambodscha befindet sich in dieser Hinsicht in einer vergleichbaren Situation wie unzählige andere Länder dieser Welt. Die Weltgesundheitsorganisation schliesst somit einen Grossteil der Weltbevölkerung vom Recht auf Medizin aus. Auf Medizin, die tatsächlich wirkt und nicht zusätzlich schadet.
Beat Richner wird oft vorgeworfen, seine Instrumente und Medikamente seien zu teuer für dieses arme Land. Eine Studie zeigte aber auf, dass die Kantha Bopha Spitäler unter 100 untersuchten Kinderspitalprojekten das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen. Dies scheint nicht Beweis genug. Die Suche nach ausreichenden Spendengeldern ist noch immer ein täglicher Kampf. Denn nur dank Spendengeldern ist es im grössten Kinderspital der Welt möglich, alle Kinder und alle schwangeren Frauen des Landes gratis mit der effektivsten Medizin und frei von Korruption zu behandeln. 14,5 Millionen Kindern konnte bisher geholfen werden. Ein Grossteil von ihnen wäre ohne diese Einrichtung nicht mehr am Leben oder schwerst behindert.
Nicht nur Geld, sondern auch Blut wird dringend benötigt. Unseres haben wir grösstenteils CO2-neutral hierhin befördert. Öko-Blut, sozusagen! Das spenden wir zwei Tage nach dem Konzert mit grosser Freude und mit einem gutem Gefühl. Aus gesundheitlichen Gründen würden wir uns nicht an vielen Orten dieser Welt bedenkenlos stechen lassen. Im Kantha Bopha aber können wir für Sicherheit, Sauberkeit und Professionalität die Hand ins Feuer legen.
Die Kinder Kambodschas sind leider nicht an allen Orten so gut aufgehoben wie in den Kantha Bopha Spitälern. Die Zustände im Land sind teilweise haarsträubend. Und nicht selten trägt der Tourismus seine Mitschuld.
Ein enormes Problem stellt die Kinderprostitution dar. Ein Drittel der geschätzten 40’000 bis 100’000 Menschen, die in der Sexindustrie Kambodschas arbeiten, sind Kinder - teilweise erst 4 Jahre alt. Ungefähr drei Viertel der Betriebe bieten Minderjährige an. Die Sextouristen kommen aus dem Westen, aus Südkorea, Japan und China. Aber Nachforschungen zufolge stammt der grösste Teil aus Kambodscha selbst. Die erschütternde Reportage von CNN The women who sold their daughters into Sex slavery berichtet vom Schicksal dreier Mädchen, deren Jungfräulichkeit von ihren Müttern verkauft wurde. Dies sind keine Einzelfälle und es ist meist der Einstieg in ein Leben als Sexsklaven. Allzu oft scheint dies für viele Eltern der einzige Weg zu sein, um den Forderungen von Kredithaien zu entkommen. Laut Berechnungen von Transparency International liegt Kambodscha an Stelle 160 von 177 im “Korruptions-Wahrnehmungs-Index”. Dies macht es umso schwieriger, gegen ein Bordell vorzugehen und die Kinder zu befreien.
Kinder werden aber auch in anderen Formen missbraucht. Vor allem in der Region Angkor Wat und an weiteren Touristen Hot Spots im Land trifft man auf unzählige Kids, die den Besuchern Postkarten und Souvenirs verkaufen wollen. Die Bilder stimmen uns traurig. Noch trauriger ist es, Touristen zu beobachtet, die den Kindern aus Mitleid 5 US Dollars hinstrecken. Was gut gemeint ist bewirkt genau das Gegenteil. Für die Eltern ist es viel lukrativer, die Kleinen als Verkäufer oder Bettler einzusetzen, als in die Schule zu schicken. Kauft man ihnen etwas ab oder steckt ihnen einfach Geld zu, leistet man so seinen Beitrag, dass sie niemals die Chance auf eine Schulbildung erhalten werden. Eine ähnliche Strategie fahren bettelnde Frauen am Strassenrand, die ihre Babies mit Medikamenten zudröhnen, um mehr Mitleid und somit mehr Gewinn erzielen. Auch beliebt ist zur Zeit angeblich der Babymilch-Betrug in Siem Reap. Die Mütter erbetteln kein Geld, sondern locken die Touristen in ein Geschäft, um Trockenmilch für den Säugling zu kaufen. Kaum sind die Spender verschwunden, kauft der Ladenbesitzer das Pulver zu einem geringeren Preis wieder zurück - eine Win-Win-Situation. Der grosse Verlierer dieses perfiden Spiels: das halb betäubte Kind.
Solche und viele weitere (noch weit schlimmere) Grausamkeiten passieren auf der ganzen Welt. Aber auf dieser Reise sind wir bisher noch in keinem anderen Land so sehr mit diesen Themen konfrontiert worden wie in Kambodscha. Was wir sehen und lesen ist nur die Spitze des Eisbergs. Vieles geschieht hinter einem unsichtbaren Vorhang, an dem wir vorbei radeln und vor dem uns Gross und Klein freudig grüsst.
Ein neues Thema war für uns das Geschäft mit (angeblichen) Waisenkindern. Parallel zu den ansteigenden Besucherzahlen in den letzten 10 Jahren ist auch die Anzahl der privat (!) geführten Waisenhäuser in die Höhe geschnellt. Seltsam, oder? Die traurige Tatsache: Nur ein Drittel der Kinder sind tatsächlich Halb- oder Vollwaisen, die anderen werden von den Institutionen rekrutiert. Familien in Not sehen dies als Chance für ihre Kinder. Sie gehen davon aus, dass sie an einem solchen Ort besser aufgehoben sind, dass sie dadurch Kleidung, genügend Essen und eine Schulbildung erhalten. Die Realität sieht leider anders aus: an vielen Orten werden die Kinder ausgebeutet, die Interessen der Betreiber gehen in eine komplett andere Richtung. Denn der Waisenhaustourismus boomt. Im Urlaub arme Kinder anschauen und für das gute Gewissen Geld spenden liegt im Trend. Es ist somit nicht in ihrem Sinn, die Kinder möglichst gesund und sauber zu präsentieren. Je ärmlicher das Bild der “Waisen”, desto mehr Geld lassen die Touristen springen. Eine Zukunft haben die Jugendlichen, die solche Einrichtungen aus Altersgründen verlassen müssen, praktisch keine.
Diesem Problem haben sich Sara & Paul Wallimann angenommen. Nach einer zweijährigen Weltreise haben sie zurück in der Schweiz den Verein Dragonfly - A Project for Cambodia’s Youth gegründet und anschliessend im Dezember 2011 zusammen mit Stefanie Feierabend das HAVEN Training Restaurant aufgebaut. Dank ihnen erhalten benachteiligte Jugendliche eine Berufsausbildung in der Gastronomie und werden nach dem Abschluss auf der Stellensuche unterstützt. Ein HAVEN Training Guesthouse ist zur Zeit in Planung. Wir sind begeistert vom Konzept, von der Atmosphäre des Restaurants, von der Freundlichkeit der Mitarbeiter und von der Qualität des Essens. Wir entscheiden uns für das westliche Angebot der Speisekarte und schlemmen wie die Könige: Cordon Bleu, Züri Gschnätzlets, guter Rotwein und zum Dessert eine Apfelwähe! Ein Festessen und eine wahre Freude, an einem solch tollen Ort zu speisen und gleichzeitig eine sinnvolle Sache zu unterstützen.
Die Gründer vom HAVEN und Beat Richner sind schöne und beeindruckende Beispiele dafür, was einzelne Menschen auf dieser Welt bewirken können. Sie opfern sich auf, verzichten auf vieles, lassen ihre Heimat, Freunde und Familie zurück und setzen sich unermüdlich für Menschenleben und für eine bessere Zukunft ein. Für mich sind Persönlichkeiten wie sie die wahren Helden unserer Zeit.
Kommentare
Hallo zusammen. Danke für all die Links und Info. Bewahrt euch diese Eindrücke. Obwohl ich für eine einiges luxuriösere Reise unterwegs war, kann ich, alles nachvollziehen und bin dankbar dass ihr meine Erinnerungen auffrischt. Ich versuche am 16.3. im Grossmünster zu seine und einige Kinoeintritte zu spenden. Denke dann an euch! Save travels. Susanne
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