China II

5.3. - 30.4.14

Statistik China II

  1. 57 Tage im Land
  2. 48 Nächte in Hotel
  3. 1 Nacht bei Privat
  4. 8 Nächte im Zelt
  5. 24 Tage im Sattel
  6. 1483 km / 19283 hm
  7. Keine Pannen

Von einem Strom zum nächsten

​Ich kann es nicht fassen, wir tun es erneut. Wir liegen in einem Bus, umgeben von stinkenden Wolldecken und muffigen Kissen. Hinter mir kotzt sich eine ältere Frau die Seele aus dem Leib. Mein offeriertes Motilium kommt anscheinend zu spät - die Kotzerei geht nach einem Schlafunterbruch weiter. So viel zum Thema «Nie wieder Schlafbus!». Immerhin: diesmal dauert die Fahrt nur 16 und nicht 46 Stunden und wir haben sogar eine Ablagefläche für unsere Sachen.

Ihr fragt euch bestimmt: warum nur tun die sich das erneut an? Ehrlich gesagt frage ich mich das auch. Aber die Strecke Kunming bis zur Grenze nach Laos sind wir das letzte Mal bereits geradelt und wir würden etwa 2 Wochen unseres 60 Tagesvisums verlieren. Diese wollen wir lieber an Orten verbringen, die wir noch nicht gesehen haben. Also heisst es Augen zu und durch und unser Hab und Gut in Jinghong in einen Bus nach Dali verladen. Das Positive an solchen Aktionen: man schätzt es danach umso mehr, wieder mit dem Rad unterwegs zu sein.

Nach einer äusserst kurvenreichen Fahrt kommen wir gerädert aber heil in Dali an und werden als erstes gleich mal von den Touristenmassen erschlagen. Es wimmelt von Chinesen! Eigentlich wollten wir nur zwei Tage bleiben, aber die Klimaveränderung und die dünnere Luft machen mich fix und fertig. Dali liegt zwar nur auf 2’007 m ü. M., aber nach langer Zeit auf Meereshöhe und in feuchtheisser Umgebung ist dies eine ziemliche Umstellung. So hängen wir noch drei Tage an und geniessen das nette Guesthouse, leckeres Essen und eine Wanderung durch die Wälder oberhalb der Stadt.

Die anschliessende Fahrt nach Lijang ist anstrengender als erwartet. Ziemlich fertig kommen wir in der Touristenhochburg an und schieben - auf der Suche nach einer bezahlbaren Unterkunft - unser Tandem über die rutschigen Pflastersteine der teils steilen Gassen. Wir trauen unseren Augen nicht. Überall wird gebaut, an jeder Ecke wird die «Altstadt» durch neue Hotels im alten Stil erweitert, um noch mehr Touristen unterbringen zu können. Der eigentliche Tourismusboom begann nach dem schweren Erdbeben von 1996, als die Stadt aufwändig renoviert wurde und sie nach dem Beben dem alten Lijang ähnlicher sah als zuvor. Ein Jahr später wurde die 800-jährige Altstadt in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. In der ersten Jahreshälfte 2012 zählte die Stadt bereits 8 Millionen Besucher, 95% von ihnen aus dem Inland. Es ist somit die beliebteste Tourismusdestination der Chinesen. Die Altstadt Lijangs gleicht einem Museum - keine lokalen Märkte, keine Wohnhäuser, keine Einheimischen, die sich auf einen Tee oder auf ein Brettspiel treffen. Nur Souvenirshops, Restaurants und Kaffeehäuser, die auf Touristen ausgerichtet sind. Würde man die Besucher abziehen, wäre sie komplett ausgestorben. Trotzdem gefällt es uns hier. Die Häuser im traditionellen Stil, die verwinkelten Pflastersteingassen und die vielen Kanäle und Brücken geben der Stadt einen gewissen Charme.

Hier sind die Naxi zu Hause - eine Minderheit, welche von tibetischen Nomaden abstammen, die sich ungefähr im 10. Jahrhundert in dieser Region angesiedelt haben. Die Gesellschaft ist stark von matriarchalischen Einflüssen geprägt. Die Frauen erben den gesamten Besitz, machen die meiste Arbeit und besitzen den Grossteil der Geschäfte. Die dominierende Rolle der Frau widerspiegelt sich sehr schön in ihrer Sprache. Wird einem Nomen das Wort «Frau» angehängt, wird es stärker, beim Wort «Mann» schwächer. Das bekannteste Beispiel: ein weiblicher Stein ist ein Felsbrocken, ein männlicher Stein ein Kiesel. An alle Vollblutemanzen: Lijang ist DIE Traumdestination für euch!

Auf der Weiterfahrt Richtung Norden amüsieren wir uns über die verdrehten Jahreszeiten: nach dem Hochsommer in Südostasien ist der Frühling zurückgekehrt. Die Bäume blühen weiss und rosa, die Temperaturen sind tagsüber sehr angenehm. Wir können sogar im T-Shirt und Marcel in kurzen Hosen radeln! Sobald die Sonne jedoch verschwunden ist wird es kalt und wir sind froh um unsere Daunenjacken. Nach dem Frühling ist der Winter nicht mehr weit - er klopft bereits an die Tür.

Nach zwei Tagen erreichen wir ein weiteres Highlight: die Tigersprungschlucht. Unzählige Busladungen an Touristen werden in die weltweit tiefste Schlucht gekarrt. Rund 3’900 Meter trennen den tiefsten Punkt vom höchsten. Wir können uns kaum satt sehen an den hohen Bergen. Wie wir sie in Südostasien vermisst haben! Zwischen den Felswänden rauscht der Jiangtsekiang mit einer ungeheuren Kraft. Wir haben uns also nicht nur vom westlichen Touristenstrom zum chinesischen fortbewegt, sondern auch weg vom Mekong hin zum Yangtze. Mit 6’380 Kilometern ist er der längste Fluss Asiens und nach dem Nil und dem Amazonas der drittlängste Strom der Welt.

Blick aus unserem Zimmer im Bridge Guesthouse

Von hier nach Shangri-La gilt es noch einen Pass zu bezwingen. Die Fahrt durch die Nadelwälder ist wunderschön und erinnert uns stark ans Engadin. Wir staunen, dass es auf einer Höhe von knapp 4’000 Metern noch so viele Bäume gibt. Kaum haben wir den Pass hinter uns, befinden wir uns in einer anderen Welt. Die Häuser und Kleider sind plötzlich tibetisch, die ersten Yak springen aufgeschreckt vor uns davon und Gebetsfahnen flattern im Wind. Was so ein Hügel ausmachen kann!

Und auch, was ein Name ausmachen kann. Shangri-La hiess bis im Dezember 2001 Zhongdian, und niemand interessierte sich gross für diese Holzfällerstadt. Drei Jahre zuvor hatte die Regierung ein Verbot zur Holzfällung ausgesprochen. Die Bewohner mussten sich also eine neue Geldquelle einfallen lassen. Also benannten sie die Stadt nach dem buddhistischen Paradies in James Hilton’s Novelle «Der letzte Horizont» (1930) und investierten ein Vermögen, um das tibetische Viertel in eine attraktive Altstadt zu verwandeln. Es entstand eine komplette Infrastruktur für Touristen - selbstverständlich im traditionellen Stil. Der Plan ging auf. Leider fiel die Stadt im Januar dieses Jahres einem Grossbrand zum Opfer, 70% der «Altstadt» brannte ab. Auch wenn wir Dank den Medien und von anderen Reisenden vorgewarnt waren - nichts konnte uns auf diesen schrecklichen Anblick vorbereiten.

Im beliebten Noa Café lernen wir eine Expat-Familie aus Frankreich kennen. Der Vater erzählt uns, dass er beim Brand allein zu Hause war. Er flüchtete auf den Hügel und musste hilflos mitansehen, wie die Flammen Haus um Haus wegfrassen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Feuerwehr etwas gegen das Feuer unternehmen konnte - die Wasserleitungen waren eingefroren. Seine Erleichterung war riesig, als das Feuer 30 Meter vor seinem Haus stoppte. Umso grösser war der Schock, als er nach Hause zurückkehrte: die Wände waren eingerissen, das Haus zerstört. Die Feuerwehr musste intakte Gebäude beschädigen, da sie mit den Löschfahrzeugen nicht durch die engen Gassen kamen. Die Familie wohnt zur Zeit in einem Hotel, bis sie in eine neue Wohnung ziehen können. Ein Chinese erzählt uns, dass die Regierung die Altstadt innerhalb von drei Jahren wieder aufbauen werde. Erneut entsteht hier somit die wohl neuste Altstadt der Welt. Laut seinen Angaben erhalten die betroffenen Familien 2’000 - 3’000 Franken Schadenersatz. Bei Weitem nicht genug, um sich eine neue Existenz aufzubauen.

Das Barley Hostel ist eines der ersten Gebäude, die vom Brand verschont geblieben sind. Als wir dort ankamen trauten wir unseren Augen kaum. Da sass der Chinese Nick, den wir bereits vor 5 Monaten in Labrang getroffen haben! Die Freude auf beiden Seiten war riesig. Da soll noch jemand behaupten, alle Chinesen sähen gleich aus und das Land sei gross.

Die zwei verschneiten Tage in Shangri-La nutzen wir, um uns für die Weiterfahrt vorzubereiten. Sprich: neben Lebensmitteln kaufen wir eine neue Daunenjacke für Marcel, drei Bettflaschen und eine Thermoskanne. Dies alles können wir bereits in der Jugendherberge gebrauchen. Isoliert ist hier kein Haus, und Zentralheizungen gibt es schon gar nicht. So ist es auch im Innern gerade mal 8 Grad warm. Die Daunenjacke wird zu unserer zweiten Haut. Aber ob wir überhaupt weiterfahren können? Das wissen wir bis zum Moment der Weiterfahrt nicht so genau. Jedes Jahr im März sind Tibet und gewisse Regionen im Norden und Westen Sichuans für Ausländer gesperrt. Grund dafür sind Unruhen (oder die Angst vor Unruhen) zum Jahrestag der Flucht des Dalai Lamas aus Lhasa im Jahre 1959. Offizielle Informationen zur Situation gibt es nicht. So hat man keine Ahnung, von wann bis wann genau welche Region geschlossen ist. Wir erhalten den Tipp, beim Busbahnhof nach Tickets für Litang zu fragen. Würden sie uns welche verkaufen, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass wir durchgelassen werden. Die Antwort ist positiv!

So schwingen wir uns nach einer kurzen Pause voller Vorfreude wieder auf’s Rad. Auf geht’s in die Berge Osttibets!

Kommentare

Silvia Lenggenhager 14. August 2014, um 20:47 Uhr

hallo zusammen
gespannt lese ich jeweils eure spannenden Reiseberichte und schaue mir die tollen Bilder an. Ich finde eure Reise genial und wünsche euch weiterhin viele schöne und unvergessliche Momente.
lg Silvia

Marcel 05. September 2014, um 21:06 Uhr

Hallo Silvia
Es freut uns, dass dir unsere Reiseberichte und Bilder gefallen. Besten Dank für die guten Wünsche! Wir freuen uns auf noch zahlreiche spannende und unvergessliche Momente. Davon wird es sicherlich noch einige auf dieser Reise geben. :-)

Dir und deiner Familie wünschen wir alles Gute und schicken liebe Grüsse!

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