Geduld, Geduld
Wir erleben momentan so viel, dass wir noch keine Zeit hatten, unseren Blog zu aktualisieren. Wir holen dies so schnell wie möglich nach!
Wir erleben momentan so viel, dass wir noch keine Zeit hatten, unseren Blog zu aktualisieren. Wir holen dies so schnell wie möglich nach!
Aufgeräumt und sauber, perfekte Teerstrassen, Helmpflicht für Motorradfahrer (inkl. Passagier), ein Verbot für Plastiktüten sowie Minibusse, die nicht mehr Passagiere mitnehmen, als Sitzplätze verfügbar sind. Wer würde dabei an Afrika und insbesondere an Ruanda denken? Zu frisch sind die Erinnerungen an den Völkermord vor 20 Jahren. Nun soll hier unter der eisernen Hand von Präsident Paul Kagame das Singapur Afrikas entstehen. Sie sind auf dem besten Weg dazu.
Verdankt wird die schnelle Entwicklung auch dem Einsatz der Einwohner. Jeder Bürger zwischen 18 und 65 Jahre ist verpflichtet, jeden letzten Samstag im Monat um 8 Uhr morgens für mindestens 3 Stunden Gemeinschaftsarbeit zu leisten. Umuganda heisst der angeordnete Zivildienst und bedeutet soviel wie «Zusammenkommen für ein gemeinsames Ziel». Schlaglöcher werden geflickt, Grass geschnitten, öffentliche Einrichtungen repariert sowie Schulen, Kliniken, Wasserkraftwerke oder Häuser für Bedürftige gebaut. Im Anschluss findet jeweils ein öffentliches Meeting statt, bei welchem lokale Probleme frei diskutiert und Vorschläge für den nächsten Zivildienst gemacht werden. Umuganda hat in Ruanda eine lange Tradition. Allerdings war der Zweck nicht immer der gleiche. Nach der Unabhängigkeit 1962 wurde unter speziellen Umständen und im Kreise von Freunden und Familie zu Gemeinschaftsarbeit aufgerufen — als individueller Beitrag zum Aufbau der Nation. Ab 1974 war es Teil des offiziellen Regierungsprogramms und wurde als Zwangsarbeit angesehen; die Bevölkerung hatte kein Mitspracherecht, bei Verweigerung wurden Bussen verteilt. Während des Völkermordes vor 20 Jahre wurde Umuganda zur Propaganda missbraucht: «Findet die Verstecke der Tutsis und treibt sie hinaus». Umuganda in der heutigen Form wurde 1998 eingeführt, vier Jahre nach dem Genozid. Es soll helfen, das Land wieder aufzubauen und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Unsere höchst repräsentative Umfrage mit 4 Personen hat gezeigt, dass die Ruander dies eine tolle Sache finden. «Man lernt die Leute in der Umgebung kennen, mit denen man sonst nie Kontakt hätte», erzählt uns Sam. Die Bevölkerung nimmt den Tag sehr ernst, der normale Alltag kommt zum Stillstand. Es fahren keine Taxis und die Geschäfte sind geschlossen. Auch Expats werden angehalten, an den Arbeiten teilzunehmen. Angehalten werden sie auch, wenn sie es nicht tun. Als Katarina ihren Besuch Radek zum Flughafen fährt, werden sie 5 Mal gestoppt. Ob sie wissen, dass heute Umuganda sei?
Katarina haben wir auf dem Boot von Gisenyi nach Kibuye kennen gelernt. Die Slowakin arbeitet seit zwei Jahren als Ärztin in einer kleinen Klinik auf dem Land, eine Autostunde von Kibuye entfernt. Bereits am Anfang des Gesprächs lädt uns Katarina in ihr Lakehouse ein. Sie sei die nächsten paar Tage zwar nicht da, aber sie wird uns den Schlüssel geben. Was für ein Glück wir wieder mal haben! Ein Haus direkt am See, an drei Seiten von Wasser umgeben. Herrlich.
Wir haben uns für den Wasserweg entschieden, da die Strecke entlang des Kivu-Sees in einem sehr schlechten Zustand ist. Und eine Schifffahrt die ist bekanntlich lustig, vor allem mit einem lokalen Boot in einem fremden Land. Spannend finden wir vor allem, dass alle schön artig in einer Reihe anstehen. Kein Gedränge, kein Geschrei. Das geht in vielen europäischen Ländern nicht so gesittet zu und her! Jedem Passagier wird eine Schwimmweste made-in-China verteilt. Auf die Innenseite ist eine Warnung gedruckt: «CAUTION: THIS IS NOT LIFESAVING DEVICE: Use only under competent supervision not to be used in boating». Beruhigend. Und sollte uns die Tatsache, dass die meisten Passagiere die Weste tatsächlich tragen, positiv überraschen oder eher verunsichern? Ganz nach ruandischer Manier legt der Kahn pünktlich auf die Minute ab. Wir bleiben draussen bei unserem Fahrrad und unserem Gepäck, eingeklemmt zwischen riesigen Tüten voller Kartoffeln und Kohl, welche schmächtige Männer kurz vor Abfahrt auf ihren Köpfen in den Bug befördert haben. Während drei Stunden tuckern wir Richtung Süden entlang der Grenze zur Demokratischen Republik Kongo, welche in der Mitte des Sees verläuft. Von hier aus haben wir eine wunderbare Sicht auf die endlose Hügellandschaft. Le pays des milles collines (Das Land der tausend Hügel) wird Ruanda auch genannt. Kein Wunder belegt dieses Land in unserer Höhenmeter-Statistik innert Kürze den ersten Platz — und wird diesen hoffentlich bis ans Ende der Reise auch halten können.
Nach unserer Ankunft in Kibuye erzählt uns Katarina, dass sie Radek für einen Besuch im Flüchtlingslager angemeldet hat, in welchem sie ab und zu Patienten behandelt. Sie fragt ob wir noch am selben Nachmittag mitkommen möchten. Wir zögern. Ob wir uns nicht wie Besucher in einem Zoo vorkommen werden? Wie ist das für die Flüchtlinge, wenn Weisse durch ihr Lager spazieren die nicht dort arbeiten? Unsere Bedenken verfliegen schnell, als wir im Camp ankommen. Die Kinder sind völlig aus dem Häuschen und stürmen auf uns zu. An jeder Hand klammern sich zeitweise 4 Kinder, weitere halten sich an unseren Armen fest. Wieder andere wollen uns nur schnell berühren. Die Traube um uns herum wächst an, je länger wir im Dorf unterwegs sind. Von allen Seiten ertönen Muzungu-Rufe. Viele Erwachsenen lachen und grüssen uns freundlich, wenn sie uns und die Kinderschar kommen sehen. Als wir genau zu Schulschluss an der Schule vorbei kommen, bläst es uns fast das Gehör weg. Hunderte von Schüler rennen kreischend auf uns zu. Noch nie haben wir so viele Kinder auf einem Haufen gesehen! Es ist als würden wir von einer blauen Welle umspült.
Schätzungen zufolge sind in der Demokratischen Republik Kongo seit Beginn des Konflikts 1996 4 Millionen Menschen umgekommen. 78’000 Kongolesen sind in das benachbarte Ruanda geflüchtet und leben hier verteilt auf vier Flüchtlingslager und ein Übergangslager. Das von uns besuchte Kiziba Camp ist das älteste davon. 17’000 Menschen leben hier, viele bereits seit der Eröffnung im Jahre 1996. 5’000 davon sind Kinder, die meist hier geboren sind und ihre eigentliche Heimat nie gesehen haben. Sie alle teilen ein trauriges Schicksal: In den Kongo können sie nicht zurück, da noch lange kein Frieden in Sicht ist. Im ohnehin bereits überbevölkerten Ruanda gibt es keinen Platz für sie. Sie stecken dort fest, können weder vor noch zurück. Die Kinder können zwar zur Schule gehen, aber nur bis zu einem gewissen Alter. Weitere Schul- oder Berufsbildung existiert kaum. Sie sind somit sehr schlecht für eine Rückkehr in (wohl ferner) Zukunft gerüstet. Bis es soweit ist versuchen einige Teenager mit Prostitution oder Drogendeals ausserhalb des Camps über die Runden zu kommen.
Trotz dieser schwierigen Situation sind wir erstaunt, dass die Atmosphäre viel weniger erdrückend ist als erwartet. Da es kein Übergangslager ist, wirkt es auf den ersten Blick fast wie ein gewöhnliches afrikanisches Dorf. Es gibt eine Klinik, Schulen, ein Markt. Die Häuser bestehen aus einer Lehm-Holz-Konstruktion ohne Fenster und messen gerade mal 3 x 4 Meter. Dies muss für eine Familie von bis zu 5 Personen reichen. In anderen Lagern in Ruanda sei die Situation weniger komfortabel: bis zu 12 Personen müssen sich 12 Quadratmeter teilen. Am schwierigsten ist wohl die finanzielle Situation. Da die meisten Flüchtlinge kein Land und kein Vieh besitzen, fehlt die Möglichkeit, ein Einkommen zu erzielen. Sie sind voll und ganz von den monatlichen Lebensmittelrationen abhängig. Katarina erzählt uns, dass Teile davon auf dem lokalen Markt verkauft werden. Wir sind überrascht. Wird viel mehr Essen ausgeteilt, als tatsächlich benötigt wird? Keineswegs, die Sache ist viel komplexer. Ich habe mich im Anschluss etwas tiefer mit der Thematik auseinander gesetzt und habe auf der Webseite des Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) einen ausführlichen Bericht über die Lebensumstände in den verschiedenen Flüchtlingslagern in Ruanda gefunden. Er stammt zwar aus dem Jahre 2006 - somit ist zu hoffen, dass sich inzwischen einiges verbessert hat. Vieles wird aber noch immer zutreffen. Die Lebensmittelrationen sind nicht ausreichend oder beinhalten nicht die tatsächlich benötigten Esswaren. So wird ein Teil davon zu meist schlechten Preisen verkauft, um damit andere Lebensmittel oder dringend benötigte Non-Food-Artikel wie Kleider, Feuerholz, Kerzen, Seife oder Kerosin zu kaufen. Zum Ausgabezeitpunkt der Lebensmittelrationen fallen die Preise für diese auf dem lokalen Markt in den Keller, während die Preise für alle anderen Güter in die Höhe schnellen. Ein Gang zum Markt bedeutet im Falle des Kiziba Camps ein Fussmarsch von ca. 3 Stunden pro Weg in das rund 1000 Höhenmeter tiefer gelegene Kibuye. Laut Bericht werden (oder wurden) häufig Kinder auf diese Touren geschickt, welche die unwegsame Strecke früh morgens in der Dunkelheit auf sich nehmen. Die erworbenen Waren verwenden die Familien entweder selbst oder sie verkaufen sie auf dem Markt im Flüchtlingslager.
Die Probleme sind endlos und es muss eine grosse Herausforderung sein, die grundlegenden Bedürfnisse in einem solchen Lager zu decken. Zwei neue Projekte scheinen nun einen grossen Unterschied im Leben der Flüchtlinge zu bewirken. Ein erstes wurde im Kiziba Camp erfolgreich initiiert: gegen Mitarbeit in einem Aufforstungsprojekt, bei dem rund um das Lager 20’000 Bäume gepflanzt wurden, hat jede Familie eine Solarlampe erhalten. Das klingt vielleicht nicht nach einer grossen Sache. Doch im Dorf gibt es keinen Strom, ab 18 Uhr leben die Menschen im Dunkeln. Die Lampen erhöhen die Sicherheit und die Lebensqualität erheblich; ausserdem muss künftig kein Essen mehr für Kerzen oder Kerosin geopfert werden. Dieses kurze Video zeigt tolle Aufnahmen vom Kiziba Camp und gibt Informationen zum Projekt. Die andere Initiative des World Food Programme wird zur Zeit im Flüchtlingslager Gihembe in Ruanda getestet. 3’500 Mobiltelefone wurden verteilt, an jeden Haushalt eines. Darauf wird mittels mVisa monatlich ein Betrag von USD 9.- überwiesen — dies entspricht dem Marktpreis der früheren monatlichen Essensration. Waren auf dem Markt im und um das Camp können direkt mit dem Handy bezahlt werden, sofern die Händler registriert sind. So kann jede Familie selbständig entscheiden, für welche Lebensmittel sie ihr Geld ausgibt. Es ist zu hoffen, dass dadurch die Lebenssituation vieler Menschen massiv verbessert werden kann und dass bald alle Flüchtlinge in Ruanda (und anderswo) davon profitieren können.
Noch wichtiger scheint mir aber, dass Leute unterstützt werden, die trotz grosser Hürden wie fehlendes Land oder Geld bestrebt sind, selbständig ein Einkommen zu erzielen. Gerade im Kiziba Camp gibt es schöne Beispiele dafür, dass mit Mikro-Krediten profitable Geschäfte in Gang gebracht werden. Das American Refugee Commitee (ARC), welches vier der Flüchtlingslager in Ruanda betreibt, hat das Income Geneneration Programme ins Leben gerufen. Das Programm richtet sich vor allem an Waisenkinder, Witwen, Behinderte und Menschen mit HIV. Gemeinschaften mit ähnlichen Interessen wie zum Beispiel Nähen, Backen, Landwirtschaft oder Gastronomie werden in den entsprechenden Bereichen ausgebildet. Ausserdem lernen sie, einen Business Plan zu schreiben. Erst wenn ein solcher vorliegt, wird das Startkapital vergeben. Weiter Projekte sind Gemüsegärten, Kleintierhaltung oder die Herstellung effizienter Kocher aus Lehm und Grass, welche den Bedarf an Feuerholz minimieren. Bei allen Projekten wird nur die Starthilfe gegeben. Danach muss das Business selbständig weiterlaufen. Die Gemeinschaft kann so im Verlaufe der Zeit weitere Leute ausbilden. Im Idealfall können die Menschen ihre neu erlangten Fähigkeiten auch nach der Rückkehr in ihr Heimatland anwenden.
Drei Tage nach unserem Besuch im Kiziba Camp wollen wir mit dem Boot von Kibyue nach Cyangugu fahren, an das südliche Ende des Kivu-Sees. Wir verlassen uns voll und ganz auf die Aussage von Katarina, dass das Boot um 11 Uhr fahre; frühestens aber wohl um 12. Als wir um 10:30 Uhr eintreffen, ist das Boot schon weg. Das nächste fährt in drei Tagen wieder. Wir können es zuerst nicht glauben und nerven uns, dass wir beim Hafen nicht nochmals nachgefragt haben. Doch schnell kommen wir zur Vernunft. Was regen wir uns über drei Tage auf? Wir sind frei, wir haben Zeit, wir haben keine Verpflichtung. Wir sitzen hier für drei weitere Tage an einem schönen Ort fest. Wie lange müssen die Flüchtlinge hier noch ausharren?
0 KommentareAuf dem Weg nach Kigali statten wir dem Nyungwe Forest einen Besuch ab. Dies ist einer der grössten geschützten, sowie einer der ältesten Bergregenwälder in ganz Afrika. Er erstreckt sich über eine Fläche von 970 Quadratkilometer und ist Heimat von unzähligen seltenen Tieren. Zu Fuss machen wir uns mit unserem Guide Julius Cäsar auf, einen Wasserfall im Park zu erkunden. Doch ausser zwei Schlangen und ein paar Schmetterlingen sehen wir leider keine Tiere. Mit dem grossen Herrscher im Anmarsch würde ich als Tier auch das Weite suchen. Vielleicht liegt es aber eher an unseren Begleitern, als am ungewöhnlichen Namen unseres Guides. 6 Westler, welche in Nigeria arbeiten und auf einen Weekend-Retreat sind, begleiten uns. Wenn sie mal nicht gerade am Telefon hängen und ein Businessgespräch führen, dann beschallen sie den Regenwald mit lauter Musik. Alena und mir wird dies irgendwann zu viel und nach einem kurzen WC Stopp lassen wir uns hinter die Gruppe zurückfallen. Julius Cäsar bemerkt dies und meint entschuldigend: «People like to enjoy it differently».
Den Regenwald geniessen wir dann noch den ganzen nächsten Tag. Die Hauptstrasse führt in ständigem Auf und Ab mitten durch ihn hindurch. Sehr anstrengend, aber wunderschön. Das Ende der geschützten Fläche ist gut sichtbar: nackte Hänge und Teeplantagen. Gerade noch 15% der ursprünglichen Vegetation des ganzen Landes ist erhalten. Jeder mögliche Fleck wird bewirtschaftet. Wohin man auch sieht, überall hat es terrassierte und bestellte Hügel.
Kaum haben wir den Regenwald verlassen, öffnet der Himmel seine Schleusen. Unglaublich was für Wassermengen auf uns niederprasseln. Nach kurzer Zeit sind wir trotz Regenkleidung total durchnässt. Wie gut, dass wir in Gikongoro ein schönes Hotel mit heisser Dusche finden. Hier legen wir einen Tag Pause ein, um unsere Sachen zu trocknen. Die Zeit nutzen wir auch, um in Murambi eine Gedenkstätte an den Völkermord zu besuchen. In einem Schulgebäude suchten 50’000 Tutsis und moderate Hutus Zuflucht, um sich vor den Schlächtern zu schützen. Dies half nichts. Innerhalb von nur 7 Stunden wurden beinahe alle 50’000 Menschen bestialisch umgebracht und in Massengräber geworfen. 1’000 dieser Leichen wurden in Murambi exhumiert und konserviert. Sie haben ihre letzte Ruhe in den Räumen der Schule gefunden und sollen als Mahnmal dienen. Wenn man durch die Zimmer geht wird die Szene immer erschütternder. Der Gestank ist kaum auszuhalten und an manchen Leichen kann man gut erkennen, auf welch grausame Art sie hingerichtet wurden. Gespaltene Schädel und zertrümmerte Knochen, bei Erwachsenen sowie bei kleinsten Kindern. Ein unbeschreibliches Bild. Wie nur konnte es so weit kommen? Wir können uns noch gut an die schrecklichen Bilder von damals im Fernseher erinnern. Doch die ganzen Hintergründe haben wir damals nicht mitgekriegt. Hier half das Museum in Murambi sowie die Ausstellung an der Gedenkstätte in Kigali.
Die belgischen Kolonialherren waren besessen davon, die Ruander in ethnische Gruppen zu unterteilen: Hutus, Tutsis und Twa. Grösse, Helligkeit der Haut, Breite der Nase und der Lippen waren Kriterien. Daneben bestimmte auch die Anzahl des Viehs über die Gruppenzugehörigkeit. Wer mehr als 10 Kühe besass war ein Tutsi, wer weniger besass ein Hutu. Diese Rassenzugehörigkeit wurde von den Belgiern auch in den Identitätspapieren vermerkt. Mit dieser Unterteilung legten sie den Grundstein für den Genozid viele Jahre später. Die Kolonialherren bevorzugten die Minderheit der Tutsis. Sie erhielten die guten Jobs und waren in die Regierung mit eingebunden — sehr zum Unmut der Hutus. Nachdem sich die Belgier aus Ruanda zurückzogen, gelangte die Hutu-Mehrheit an die Macht und rächte sich immer wieder an der Tutsi-Minderheit. Schon damals gab es zahlreiche Massenmorde und viele Tutsis flohen in die Nachbarländer. In Uganda entstand daraufhin unter der Führung des heutigen ruandischen Präsidenten Paul Kagame die sogenannte Rwandan Patriotic Front (RPF). Diese fiel 1990 ein erstes Mal in Ruanda ein. Belgien und Frankreich eilten der Hutu-Regierung zu Hilfe und drängten die RPF zurück nach Uganda. Es folgten weitere Massaker an Tutsis, was zu noch mehr Flüchtlingen in Uganda führte. Der ugandische Präsident Museveni unterstützte daraufhin die RPF mit Waffenlieferungen. Sein Ziel war, den bis zu 250’000 ruandischen Flüchtlingen in seinem Land die Möglichkeit zu verschaffen, in ihr Land zurückzukehren. Die Gestärkte RPF attackierte 1991 ein zweites Mal und gelangte bis 1993 kurz vor die Tore von Kigali. Es kam zu Friedensgesprächen und sogar zu einem Abkommen in Arusha, Tansania. Es wurden französische Soldaten nach Ruanda geflogen, um den Frieden zu sichern. Die Rolle dieser französischen Soldaten ist aber mittlerweile sehr umstritten. Sie wurden dabei beobachtet, wie sie Armeeangehörige der ruandischen Regierung sowie die Bürgerwehrgruppe Intarahamwe in Nahkampf ausbildeten. Zudem wurden Waffenlieferungen an die ruandische Armee getätigt, unter anderem eine Lieferung von 100’000 Macheten, der Hauptwaffe der Völkermörder.
Am 6. April 1994 wurde das Flugzeug vom ruandischen Präsidenten Habyarimana im Landeanflug auf Kigali niedergeschossen und stürzte ironischerweise in den Garten seines Palastes. Der Präsident war auf dem Rückweg von Friedensgesprächen in Arusha. Die Frage, wer das Flugzeug niedergeschossen hat, wird wohl für immer unbeantwortet bleiben. Die Hutus beschuldigten die RPF für den Abschuss. Was auf den Abschuss folgte war ein Abschlachten von unglaublichen Ausmass. Angetrieben durch Hasspropagande, welche über den von Hutu-Extremisten betrieben Radiosender Radio Television Libré des milles Collins verbreitet wurde, machten sich Mitglieder der ruandischen Armee sowie der Bürgerwehrgruppe Interahamwe daran, dem «Tutsi-Problem» ein Ende zu setzen. Ihr Ziel war es, alle Tutsis sowie moderaten Hutus umzubringen. Die Welt schaute dabei zu. Innerhalb von 100 Tagen starben zwischen 800’000 und 1.2 Millionen Menschen, 2 Millionen flüchteten, während im Westen darüber diskutiert wurde, was man tun könne und ob es sich nun um einen Völkermord handelt oder nicht. Die Schlächter waren vorwiegend mit Hacken und Macheten bewaffnet — es hätte wenig gebraucht sie zu stoppen. Belgien, welches ein Kontingent an UN-Blauhelmen in seinem ehemaligen Kolonialland stationiert hatte, zog seine Truppen ab, nachdem am 7. April zehn seiner Blauhelme ermordet wurden. Dies zeigt auf, dass der Völkermord von langer Hand geplant wurde, war der Abzug doch genau das Ziel, welches die Extremisten mit der Ermordung verfolgten. Es ermöglichte ihnen, das Abschlachten ungehindert auszuführen.
Zum Thema gibt es zwei interessante und schockierende Filme, die wir beide sehr empfehlen: «Hotel Ruanda» sowie «Sometimes in April». Zu empfehlen ist auch das Buch von Roméo Dallaire mit dem Namen: «Handschlag mit dem Teufel». Dallaire war der Kommandant der während des Genozides in Ruanda stationierten UN-Truppen und im Buch beschreibt er den verzweifelten Kampf um Hilfe von Aussen sowie um Mittel, den Völkermord zu stoppen. Das Buch wurde verfilmt, doch den Film haben wir bis jetzt noch nicht gesehen.
Heutzutage dürfen die Bezeichnungen Hutu und Tutsi nicht mehr verwendet werden. Ihr Gebrauch in der Öffentlichkeit kann juristische Konsequenzen haben. Umso überraschter sind wir, als der Ruander Joseph in einem Restaurant von sich aus das Thema anschneidet. Seiner Frau scheint es dabei sichtlich unwohl zu sein. Sie sitzt unruhig mit ihrer Tochter Namens Peace neben uns und drängt schon bald darauf, nach Hause zu gehen. Doch Josef erzählt munter weiter. Alena fragt, ob den Freundschaften zwischen Hutus und Tutsis möglich seien. Er meint ja, aber diese seien nie tief. Man wisse nie ob einem der andere eines Tages umbringe. Er erzählt auch, dass im Moment ganz klar die Tutsis bevorzugt werden. Der ehemalige Rebellenführer und jetzige Präsident Paul Kagame wolle zwar offiziell nichts mehr von der Rassentrennung wissen, inoffiziell werden aber klar Tutsis bei der Jobvergabe, bei Stipendien und beim Hausbau bevorteilt. Wir können diese Aussagen nicht überprüfen, aber es zeigt auf, dass die Wunden nach wie vor tief liegen und in der jetzigen Generation nicht verheilen können.
In Kigali besuchen wir noch die Völkermord Gedenkstätte. Auf die Frage nach der Vergebung antwortet ein Mann, der seine gesamte Familie verloren hat, in einem Videointerview: «Ich glaube ich würde vergeben können und wollen. Aber wem? Solange ich nicht weiss, wer meine Familie umgebracht hat, wie kann ich dann vergeben?»
Trotz dieser schrecklichen Vergangenheit gefällt es uns in Ruanda sehr gut und wir fühlen uns sicher. Wir beobachten auch einen sehr sanften und respektvollen Umgang zwischen den Ruandern. Es übersteigt unser Vorstellungsvermögen, dass diese Menschen zu solchen Gräueltaten in der Lage waren. Wir fragen uns oft, was für eine Position die Menschen, welchen wir begegnen, im Völkermord belegten. Haben sie Blut an den Händen? Haben sie geliebte Menschen verloren? Sind sie selbst knapp dem Tod entkommen? Es gibt wohl keinen Erwachsenen in diesem Land, der von dieser schrecklichen Zeit kein Trauma davon getragen hat. Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens 90% der überlebenden Kinder mindestens einen grausamen Mord an einer ihnen bekannten Person mitansehen mussten. Immer wieder sehen wir Menschen mit grässlichen Narben auf dem Kopf, dem Gesicht und den Armen.
Nach dem Genozid sind viele Flüchtlinge nach Ruanda zurück gekehrt. Das Land platzt aus allen Nähten. Auch wenn wir auf den ersten Blick niemanden sehen — kaum halten wir an befinden wir uns mitten in einer Menschenmasse. Als wir an einem Sonntag kein Restaurant finden und selber kochen müssen, sind wir innert einer Minute von über 30 Kindern umzingelt. Sie lassen uns fast keinen Platz, so neugierig schauen sie zu wie ich unsere Suppe zubereite. Entspannte Pausen würden anders aussehen. Aber lustig war’s trotzdem.
Der Genozid in Ruanda hatte weitreichende Folgen in der umliegenden Region. «Vom Völkermord zum Flächenbrand» ist ein Artikel, welcher im April 2014 in der NZZ erschien und die verschiedenen Konflikte innerhalb Ostafrikas in den Zusammenhang mit dem Völkermord bringt. Sehr lesenswert.
1 Kommentare